Sonntag, 20.12.2009
Haile war am Abend zuvor ganz aufgeregt gewesen: Für Sonntag sei ganz in der Nähe ein „Bull Jumping“, der Initiationsritus der Hamer, angekündigt. Wir würden also ein wenig von unserem Programm abweichen und uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Ich hatte einiges über den Bullensprung gelesen und war durchaus skeptisch, ob wir dieses Spektakel mögen würden. Aber gegen Hailes Begeisterung war kein Kraut gewachsen.
Vormittags fuhren wir zunächst nach Omorate. „Engine or local?“, war die Frage und wir waren nicht böse, dass Haile sich für Engine entschied: Mit einem Motorboot setzten wir ans andere Ufer des Omo über um uns zwei Dörfer der Darsanech anzuschauen. Wind, Staub, Dornenhecken, schon wieder eine für unsere Begriffe eher unwirkliche Szenerie – und wie so oft an jeder Hand mehrere Kinder. Bis zu sieben Personen leben in einer Hütte; Dirk und ich hätten uns zu zweit darin gerade eben wohlgefühlt. Blickwinkel-Problem.
Die Dörfer waren durchaus interessant anzuschauen, wenngleich wir wieder permanent bedrängt wurden: „Photo, photo, make photo – two Birr!“ Dirk musste sich zahlreicher junger Frauen erwehren, ich hielt mich an die Kinder und alberte mit ihnen herum. Nach etwa zwei Stunden war es Zeit für die Rückfahrt. Und für die Nachricht: Das Motorboot war in der Zwischenzeit kaputt gegangen … Womit aus Engine dann doch noch Local wurde. Uns entlockte das ein Grinsen, ja, ja, so ist das eben in Afrika. Wir setzten also mit einem der mehrere Meter langen Einbäume über – auf dem träge dahin fließenden Fluss eine ziemlich wackelige Angelegenheit und überhaupt nicht mit den doch sehr ruhig gleitenden Mokoros in Botswana zu vergleichen.
Sicher und nur partiell nass kamen wir auf der anderen Seite an, tranken in Kelem – nahe der kenianischen Grenze und voller Fahrzeuge der UN und anderer Hilfsorganisationen – noch eine Cola und machten uns dann auf den Rückweg nach Turmi. Schließlich war ja für nachmittags das Bull Jumping angekündigt und wir hofften vorher auf eine ausgedehnte Mittagspause. Von wegen.
13:30 Uhr – Haile blies zum Aufbruch, damit wir keine Minute des Bull Jumpings verpassen würden. Um es gleich zu sagen: Es ist brutal, es ist archaisch, es ist für uns überhaupt nicht nachvollziehbar; wir hätten vorher nicht geglaubt, dass es so etwas außerhalb „touristischer Folklore“ noch gibt. Und doch – oder gerade deshalb? – hat es uns auch unglaublich fasziniert. Weder das Bull Jumping noch irgend ein anderer Brauch ist im Rahmen einer Rundreise, wie wir sie gemacht haben, auch nur ansatzweise zu verstehen. Aber wer sich darauf einlässt, der nimmt Eindrücke und auch durchaus den einen oder anderen kritischen Denkanstoß mit nach Hause.
Im Mittelpunkt steht beim Bullensprung ein junger Mann an der Schwelle zum Erwachsensein. Der Bullensprung symbolisiert diese Schwelle, schafft er es, darf er (nach einer unmittelbar anschließenden „Auszeit“ im Busch) heiraten, eine Familie gründen. Ein Erwachsenen-Leben führen. Unterstützt wird der junge Mann beim Bull Jumping von seiner Familie, allen voran von den Frauen. Um diese uneingeschränkte Unterstützung zu zeigen, lassen sich die weiblichen Verwandten von anderen jungen Männern mit langen dünnen Gerten auspeitschen. Und zwar so lange, bis ihre Rücken blutig und die Männer am Ende ihrer Kräfte sind. Um das überhaupt duchstehen zu können, putschen sich die Frauen vorher mit selbstgebrautem Bier und Tänze auf.
Das ganze Spektakel dauert einige Stunden und das in unserem Fall auch noch bei 35 Grad im Schatten. Dann werden die Männer, die der Hauptperson beim Bullensprung zur Seite stehen, geschminkt und die Rinder zusammengetrieben: Zwischen acht und zwölf Bullen werden Flanke an Flanke in eine Reihe gestellt, festgehalten – dann muss der junge Mann nackt viermal über die Rücken der Rinder laufen. Schafft er es, zieht er sich für einige Wochen mit anderen jungen Männern in den Busch zurück, danach darf er heiraten.
Gute vier Stunden hatten wir uns das bunte und laute Treiben angeschaut: ein Einblick in Sitten und Bräuche, die uns absolut fremd sind. Genau dafür waren wir hergekommen. Und genau davon werden wir noch sehr lange erzählen.